Was Eigenes


Meine Oma war eine sehr lustige Frau. Fanden zumindest wir Enkelkinder. Wir durften auf ihrem Rücken reiten wie auf einem Pferd und zu unserer Belustigung hat sie ihr künstliches Gebiss rausgenommen und damit geklappert wie ein Vampir mit Parkinson.
Wenn sie auf uns Kinder aufpassen sollte, dann durften wir immer mit ihr zusammen Krimis gucken. Das fanden unsere Eltern wiederum nicht so lustig. Dabei waren es immer harmlose Krimis, fand zumindest meine Oma.
Samstags gab es keine Krimis, da haben wir dann Volksmusiksendungen geschaut. Die mochte meine Oma auch. Vor allem der jodelnde Japaner hatte es ihr angetan. Tanzen wie Ginger Rogers und Jodeln – das hätte meine Oma gerne gekonnt. Das mit dem Tanzen hat sie sein gelassen, aber gejodelt hat sie immerzu. Nicht gut, aber begeistert.
„Holleradiho!“ war stets ihre Begrüßung.

„Wir treffen uns am Parkplatz an der großen Kurve.“

So stand es in der E-Mail geschrieben, die mir der Jodelkaiser geschickt hatte. Meine Kollegen haben mir zu meinem vierzigsten Geburtstag einen Gutschein für einen Jodelkurs geschenkt. So etwas kriegt man eben, wenn man abfällig hämisch jedes Weiterbildungszertifikat als „Jodeldiplom“ bezeichnet.
Und heute isses so weit. Pünktlich um 9:30 Uhr bin ich in Schmitten im Taunus und suche die große Kurve mit dem Parkplatz. Schwupps bin ich schon wieder draußen ohne jemanden gesehen zu haben, der aussieht wie ein Jodelkaiser. Einmal gedreht und schwupps bin ich am anderen Ortsausgang draußen. OK, dann gebe ich eben die Adresse des angegebenen Gasthofs in mein Navi ein.
Man kann da nicht mit dem Auto hinfahren?!?
Um 9:50 Uhr bin ich an einem Parkplatz, der zwar nicht offensichtlich an einer großen Kurve liegt, eher an einer astreinen Geraden, aber dafür über ein Schild verfügt, das zum  Waldgasthaus „Fuchstanz“  weist.
Allerdings ist auch hier weit und breit keine kaiserliche Jodelhoheit in Sicht. Aber natürlich wartet ein Kaiser nicht auf seine popeligen Hofnarren. Und eine Handynummer hat ein Kaiser auch nicht. Wahrscheinlich ist der Trupp schon vorgegangen.
Was mach ich jetzt? Umdrehen und zugeben, dass ich zu doof war, die richtige Kurve im Taunus zu finden? Umdrehen, mit Photoshop ein Jodeldiplom fälschen und behaupten, es wäre supertoll gewesen?  Oder …?
Ist 3,4 Kilometer lang? Eher nicht so.

Doch. Ist es. Vor allem, wenn es die ganze Zeit bergauf geht. Nach zehn Minuten bin ich klatschnass. Der Schweiß in meinem Gesicht vermischt sich mit der getönten Tagescreme und zaubert orangefarbene Flecken auf mein weißes T-Shirt. Doch umdrehen? Krieg ich das hin mit Photoshop? Da kann man doch bestimmt was im Internet klauen.
Das ist ein Schild an einem Baum. Vielleicht ein kaiserliches Edikt? Als ich näher herangehe, um es lesen zu können, werde ich beinahe von einem Rudel Mountainbiker über den Haufen gefahren.
Auf dem Schild wird übrigens vor wilden Fahrradfahrern gewarnt, da heute Oberurseler Bike-Marathon ist.

Nach 1,5 Kilometer Waldwanderung im strammen Stechschritt erreiche ich zwar nicht den Gasthof, dafür aber das Runner’s High. Die Muskeln schmerzen nicht mehr so dolle, die vorbeirasenden Biker erfrischen mich mit ihrem Fahrtwind und es gelingt mir immer besser, dem Schotter auszuweichen, den sie aufwirbeln. Außerdem beginne ich zu halluzinieren. Ich sehe halbnackte Männer an mir vorbeijoggen.
Nach zwei Kilometer Marsch ist das Runner’s High schon wieder up and away. Ich werde sauer. Dem jodel ich eins, wenn ich den treffe, den verdammten Jodelkaiser. Kann doch ruhig mal warten. Was bildet der sich ein? Wie war das? Ist die Majestätsbeleidigung jetzt abgeschafft? Ist mir egal. Da pfeif‘ ich drauf. Holleradiho, hier ist mein Mittelfinger!
Bei Kilometer 2,8 läuft ein Reh mit zwei Kitzen etwa zehn Meter vor mir über den Weg. Wie herzallerliebst! Was hab ich ein Glück! Ist doch wirklich schön hier im Wald!

Und dann komme ich doch noch an, beim „Fuchstanz“.
Aber vom Jodelkaiser und seinem Hofstaat ist auch hier nichts zu sehen. Dafür gibt es Sitzplätze. Und Apfelschorle. Eigentlich will ich einen Schnaps. Aber ich muss ja noch mit dem Auto zurück. Und wenn nicht bald der Kaiser kommt, dann ist das schneller, als ich dachte.

„Ich suche einen Jodelkurs.“

Schallendes Gelächter der Gäste, die am Tisch neben mir sitzen.
„Futur 2 bei Sonnenaufgang.“ Der Mann bringt den Satz vor Lachen nicht ganz zu Ende, aber da ich den Loriot-Sketch sehr gut kenne, weiß ich, was er sagen will.
Immerhin kennt der Wirt den Jodelkaiser.
„Aber für heute hat er sich nicht angekündigt“, zerschlägt er zugleich alle meine Hoffnungen auf einen glücklichen Ausgang der Geschichte.
Also doch kein Jodeldiplom für mich. Aber Hey!, ich habe ein Reh mit Kitzchen gesehen. Sogar zweien. Ganz nah.

Und dann kommt er doch noch. Aus der entgegengesetzten Richtung kommt er, gleich und unmissverständlich zu erkennen an den Insignien der Jodelkaiser-Macht: Wanderstab, bayrische Tracht und Quetschkommode auf dem Rücken. Silbergraues Haar zu wettergegerbtem Teint. Majestätisch marschiert er ein, begleitet von seinen Jodeljüngern.
Anscheinend waren alle anderen fünf Teilnehmer in der Lage, den richtigen Parkplatz „an der großen Kurve“ zu finden.
Sie haben etwas Vorsprung, weil sie schon auf dem 1,5 Kilometer langen Weg bis zur Gaststätte losgejodelt haben.
Ich werde mein TomTom verklagen. Warum schickt der mich zu dem 3.4 Kilometer entfernten Parkplatz wenn es auch einen viel näheren gibt? Das ist mehr als das Doppelte. Das ist schwere Körperverletzung oder so. Arglistige Täuschung. Irgendwas wird sich da schon finden lassen.

Aber immerhin lässt man mich mitjodeln. Einfach so, ohne Einführung.
Ich bin heilfroh, dass mir eigentlich nichts peinlich ist. Mitten im Wald an einer belebten Gaststättenkreuzung stehen und ohne irgendeinen Plan loszujodeln ist definitiv nichts für introvertierte Geister.
„Jetzt machen wir erst mal ein wenig Gymnastik im Gesicht. Das ist Anti-Aging. Ihr kommts jünger aus dem Wald als wie ihr reingekommen seid.“
Wir verziehen also unsere Gesichter, als hätten wir gerade einen Schluck Zitronensaft mit Essig getrunken, als der Jodelkaiser noch hinzufügt: „Das macht man aber besser nicht in der Öffentlichkeit. Schaut a bisserl bled aus.“
„Hol la rä Hol la rä Hol la ri di ri di jä“ Erst einmal werden die zu jodelnden Silben eingeübt.
Der Kehlkopf muss vibrieren und die Lunge brauchen wir nicht. Die Atmung muss aus dem Bauch kommen. Mach ich natürlich falsch. Aber ich habe gerade erst meine Lungen 3,4 Kilometer bei gefühlt neunzigprozentiger Steigung in frischer Waldluft trainiert, das muss doch auch Anwendung finden.
„Du musst runde Augen machen“, rät der Jodelkaiser, der Thomas-Gottschalk-gleich alle duzt, einer Teilnehmerin aus Nicaragua.
Und ich soll wilder jodeln. Kann er haben.

Bei der anschließenden Frühstückspause im Fuchstanz trifft mich die Erkenntnis hart und unerwartet wie ein rechter Haken von einem der Klitschko-Brüder:
Meine Mitjodler meinen das hier ernst.
Die wollen kein Futur 2 bei Sonnenauf- oder -untergang und die wollen auch nicht den Loriot-Witz „Du Dödel, Du“ machen. Das sind Mutti-Hoppenstedt-Wiedergänger: Die wollen echt jodeln lernen.
Und weil sie beim letzten Mal wohl nicht so richtig gut aufgepasst haben, machen zwei der anwesenden Damen den Kurs bereits zum zweiten Mal.

Wir jodeln uns also vom Juhizer über den Eichberger Jodler weiter zum Alperer bis zum Andachtsjodler.
Zum Sensnmähjodler versuchen wir uns an einer anspruchsvollen Klatsch- und Stampfbegleitung und irgendwann tanzen wir sogar auf dem Gipfel des Altkönigs paar- und jodelnder Weise. Zumindest solange, bis eine Gruppe amerikanischer Mountainbiker den Kaiser für eine gemeinsame Jodelsession anfragt, die auf Video aufgenommen wird.

„We love German jodeling.“

Überhaupt will ich gar nicht wissen, auf wie vielen Youtube-Kanälen ich inzwischen laufe. Immer wieder bemerke ich zwischen den Bäumen und Büschen Handys, die verräterisch auf unsere Gruppe gerichtet sind. Wir fallen anscheinend auf.
Wenn also demnächst auf Facebook und Konsorten ein Video „Verrückte Jodeltruppe im Taunus“ viral wird, dann schaut doch mal, ob Ihr mich erkennt. Ich bin die Verschwitzte mit dem fleckigen T-Shirt und den schiefen Tönen.

Irgendwann kommen dann noch Kuhglocken ins Spiel. Wir jodeln, tanzen und bedienen Kuhglocken. Simultan! Und manchmal sogar an der richtigen Stelle.
Mein persönlicher Höhepunkt ist der Hätt-i-di-Jodler, mit dem die Frau ihren Mann klassischer Weise aus dem Wirtshaus herausjodelt. Es handelt sich dabei um einen Paarjodler, der mit Gesten untermalt wird. Wenn mein Mann das nächste Mal also kein Ende beim Netzwerken findet, dann komm ich einfach in die Kneipe hineingejodelt, da wird der so schnell so peinlich berührt das Weite suchen, dass er gar nicht auf die Idee kommt, mit der „Halts-Maul“-Antwort der Männerstimme gegenzuhalten.

Und am Ende gibt es dann noch den Abschlusstest: Jeder muss alleine einen Juhizer präsentieren.
Alleine ist das irgendwie schwieriger als im Chor, aber alle bestehen glücklicherweise.
Ich habe ein klein wenig den Verdacht, dass vielleicht überhaupt noch nie jemand durch diese Prüfung durchgefallen ist. Aber das behalte ich natürlich für mich.

Es war ein sehr lustiger Tag. Ich habe laut im Wald gejodelt ohne dabei Schnappatmung zu bekommen.
Ob ich morgen noch irgendeinen von den Jodlern zusammenbekomme, weiß ich nicht.
Aber jetzt habe ich also ein Jodeldiplom. Was Eigenes. Wenn die Kinder mal aus dem Haus sind, dann jodel ich mir eins.

Und wenn ich das nächste Mal alleine im Wald bin und vor mich hinjodel, dann antwortet mir vielleicht meine Oma, wo auch immer sie jetzt sein mag.
Holleradiho!

6 Gedanken zu „Was Eigenes

  1. Pingback: #12von12 und #WiB im August 2017: Kaffee im Bett und 3-D-Obstmandala | Sandkuchen-Geschichten

  2. Mitzi Irsaj

    Dass es das wirklich gibt hätte ich nicht gedacht.
    Ein herrlicher Erfahrungsbericht und ja…jetzt hast du was ganz eigenes ;).

    Eine schöne Seite hast du übrigens auch. Ich werde sicher öfter vorbei schauen.
    Liebe Grüße
    Mitzi

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  3. Nadini

    haha, der Taunus, jaja, das ist der pure Urwald 😀
    .. aber so einen bayerischen Jodelheini im hessischen Forst stell ich mir sehr merkwürdig vor. 😉

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