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Mit dem Herzen gut

In der Grundschule meiner Kinder gibt es Verwarnungsvordrucke, auf denen man nur den Namen des Kindes an der vorgesehenen Stelle einfügen und ankreuzen muss, um welches Vergehen es sich diesmal gehandelt hat.
Das ist sehr praktisch, vor allem bei Kindern wie meinem Sohn, die beinahe täglich einen oder mehrere dieser Zettel mit nach Hause bringen. Manchmal bekommen wir sie auch per Post, weil Fritz keine Lust oder vergessen hatte, sie vorzuzeigen.
Dieses Thema beschäftigt uns jetzt seit er zwei Jahre ist und in seinem ersten Krippen-Zeugnis beim Jahresgespräch stand: „Fritz kennt alle Regeln, befolgt sie aber nicht immer.“

Ich bin sehr froh, dass bisher bei den Schulformularen noch nie die Kästchen „Würgt andere Kinder“ oder „Tritt auf Kinder ein, die am Boden liegen“ angekreuzt waren.
Ich muss mir allerdings eingestehen, dass dieses Kind es nicht schafft, dem Unterricht, den Lehrern und den anderen Kindern den gesellschaftlich erwarteten Respekt entgegen zu bringen.

Das ist schwer.
Für mich.
Denn ich erziehe dieses Kind. Ich bin es, die ihm beibringen und vorleben sollte, wie man sich benimmt.
Aber irgendwie habe ich da versagt und kleine Zweifel nagen an mir, ob etwas mit mir oder meinem Kind nicht stimmt.

Beim letzten Gespräch mit der Lehrerin schlug diese vor, vielleicht mal den Schulpsychologen zu Rate zu ziehen.

Rumms!

Sicherlich war die Intention der Lehrerin eine andere, aber in meinen Ohren kam an:
„Sie haben es nicht im Griff, ihr Kind ist ein verzogenes Gör, das alle nervt und untragbar ist. Es ist an der Zeit endlich mal professionelle Hilfe zu suchen.“

„Fritz hat heute einfach so den Sportunterricht verlassen“, „Fritz ist zwei Kindern aus dem Klassenraum hinterhergelaufen“, „Fritz hat eine Betreuerin getreten (mutwillig)“, „Fritz hat den Sportlehrer als ‚Schwulen Hund‘ bezeichnet“.

Diese Einträge machen mich ratlos. Das ist doch nicht mein witziger, liebenswürdiger Fritz, der darin beschrieben wird!
Ja, er hat keine wirkliche Impulskontrolle. Was ihm in den Kopf kommt, das macht er.
Und ihm kommt ziemlich viel in den Kopf.

Als ich im Kollegenkreis von dem Ärger erzählt habe, den ich mit dem Kind habe, meinte einer:

 „Das sind die besten Jungs.“

Vielleicht, aber momentan ist es schwer, daran zu glauben.

Was tun?

Ich habe schon häufig gute Erfahrungen damit gemacht, meine Kinder solche Situationen neutral von außen beurteilen zu lassen, warum also nicht auch diesmal?

„Fritz, was würdest Du denn machen, wenn da ein Kind wäre, das immer im Unterricht reinquatscht, keine Hausaufgaben macht und sich den Lehrern gegenüber respektlos verhält?“
„Ich würde es schlagen.“
„OK, das wäre für mich jetzt keine Option. Was glaubst Du denn, braucht das Kind, um das nicht mehr zu machen?“
Es war ziemlich schwierig für Fritz, das zu benennen. Er glaubte, dass das Kind sich vielleicht manchmal selbst nicht versteht. Und dass das Kind vielleicht gerade im Sexualkundeunterricht Dinge hört, die mit ihm passieren werden, die es nicht will.
Und dann hat er noch einen Vorschlag gemacht:

„Vielleicht sollte man mit dem Kind mal zum Psychopathen gehen.“

Später saßen wir dann noch zusammen, weil ihm nach dem Abendessen eingefallen ist, dass da doch noch Hausaufgaben ungemacht sind. Er war nicht gut auf mich zu sprechen, wir hatten schon den ganzen Tag immer wieder Ärger und ich weigerte mich, ihm die Lösungen der Aufgaben zu verraten, sondern versuchte, dass er selbst drauf kommt.
Zwischenzeitlich habe ich auf meinem Handy gelesen, dass eine andere Bloggerin, die ich persönlich kenne, eine neue Lieblingsblogger-Liste gemacht hat.
Gefühlt steht da jeder Blog drauf – bis auf die Sandkuchen-Geschichten.
Das hat mich traurig gemacht, auch wenn es nüchtern betrachtet sehr albern ist. Aber es trifft einen wunden Punkt und ich zweifle schon länger an mir und meiner Schreiberei, dazu noch der Ärger mit meinem Sohn und der Schule.

Fritz, das Kind, das in der Schule nie merkt, wann der richtige Zeitpunkt ist, um mit dem Quatsch machen aufzuhören, hat sofort gemerkt, dass da was ist, was mich bedrückt

„Schreib der anderen Bloggerin doch einfach auf Facebook, dass Dein Blog fehlt.“

„Das werde ich bestimmt nicht machen. Das ist viel zu peinlich.“

„Nein, das ist es nicht. Der anderen Bloggerin sollte es peinlich sein, dass sie den besten Blog von der tollsten Mutter von allen vergessen hat. Und  wir zwei müssen jetzt mal kuscheln.“

Und das haben wir dann gemacht. Obwohl es für zehnjährige Jungs eigentlich gar nicht cool ist, mit ihrer Mutter zu kuscheln.
Anschließend zog er ein Taschentuch aus seiner Schreibtischschublade, faltete es mit großer Geste auseinander und reichte es mir.

Fritz‘ Geschichten hinter den Einträgen lauten übrigens folgendermaßen:

„Fritz hat heute einfach so den Sportunterricht verlassen“
Im Sportunterricht gab es ein Wrestling-Tunier. Fritz musste immer gegen einen Jungen kämpfen, mit dem er gerade Krach hatte und der ihm weh getan hat.
Noch schlimmer, als mit seiner Mutter zu kuscheln, ist es für manch einen zehnjährigen Jungen mit großer Klappe, seinem Sportlehrer gegenüber zuzugeben, dass andere Jungs stärker sind als er und darum zu bitten, einen anderen Gegner zugeteilt zu bekommen.

„Fritz ist zwei Kindern aus dem Klassenraum hinterhergelaufen“
In der Klasse gibt es ein anderes Kind, das einen ganz ähnlichen Namen hat wie Fritz. Dieses Kind sollte ein anderes Kind ins Sekretariat bringen. Fritz hatte seinen Namen verstanden, den Auftrag ausgeführt und ist dann zurückgekommen.

„Fritz hat eine Betreuerin getreten (mutwillig)“
Fritz hat beim Fußballspielen gegen die Betreuerin statt des Balls die Beine der Betreuerin getroffen.

„Fritz hat den Sportlehrer als ‚Schwulen Hund‘ bezeichnet“
Fritz saß neben einem Jungen, der „Schwuler Hund“ gesagt und dann behauptet hat, Fritz wäre es gewesen.
Fritz mag Hunde und hat zwei schwule Onkel, die irgendwie cooler sind als seine Eltern und vor allem besser kochen als seine Mutter. Hätte er es tatsächlich gesagt, wäre es ein Kompliment gewesen.

So kann es natürlich gewesen sein.
Aber eigentlich ist es egal.

So wie jeder Mensch ist mein Sohn weit davon entfernt, perfekt für alle zu sein.
Aber er ist genau der richtige Sohn für mich.
Wer Sonnenschein möchte, muss auch Hitze ertragen. Wer ein selbstbewusstes, lustiges, schlagfertiges Kind haben möchte, das es gut aushält, es nicht immer jedem recht zu machen, der muss auch aushalten können, dass es Grenzen austestet.
Oder wie ein weises mit mir näher verwandtes Kind mal gesagt hat:

„Na klar teste ich Grenzen aus. Woher soll ich denn sonst wissen, wo sie sind?“

Einen Psychopathen werden wir wohl erst mal nicht brauchen.
Und Zweifel braucht auch kein Mensch, nicht mal Mütter.

Mit diesem Beitrag bewerbe ich mich für den scoyo ELTERN! Blog Award 2017.

Wahnsinn, die Geschichte hat es ins Finale geschafft! 

Falls Euch der Beitrag gefallen hat, würde ich mich freuen, wenn Ihr für mich abstimmt: https://www-de.scoyo.com/eltern/scoyo-lieblinge/blog-award/eltern-blog-award-2017-voting#abstimmen-2017

Nachklapp:

Fritz wäre nicht Fritz, wenn sich die Geschichte mit dem Taschentuch für seine Mutter tatsächlich nicht doch ein klein wenig anders abgespielt hätte:

… Anschließend zog er ein Taschentuch aus seiner Schreibtischschublade, faltete es mit großer Geste auseinander, setzte an, es mir zu reichen, und schnäuzte dann geräuschvoll rein.
Grinsend nahm er dann ein neues mit der anderen Hand und reichte es mir.
Und ich brauchte das Taschentuch auf einmal für die Lachtränen.

Den Satz des Kollegen über die Jungs, die Ärger machen, möchte ich noch ein wenig verändern:
Das ist der beste Junge!