Mein Plan sieht vor, irgendwo meinen Koffer in ein Schließfach zu sperren und mich anschließend durch Berlin treiben zu lassen.
So erkunde ich Städte nämlich am liebsten: einfach ohne Plan durch die Straßen laufen und mich von meinem Gefühl leiten lassen. Die Häuser anschauen, die Lädchen, die Menschen, die Details, die am Wegrand liegen und die ich mit meinen Blicken einfange und in meinen Erinnerungsschrank packe.
Ich will eine Stadt nicht nur sehen, sondern sie auch spüren.
Diese Vorgehensweise kommt mir praktischerweise sehr entgegen, da ich absolut unfähig bin, mich zu orientieren.
Allerdings ist mir der Weg von meinem Hotel bis zum Hauptbahnhof mit seinen Schließfächern zu umständlich und ich habe auch keinen Stuhl dabei, den man in Berlin anscheinend zum S-Bahn-Fahren mitnimmt.
Ich möchte erst einmal ein schönes Café zum Frühstücken finden und schiebe meinen Koffer durch die Straßen und über die Kopfsteinpflaster, immer bemüht, den kinderwagenschiebenden Vätern auszuweichen.
Berlin präsentiert sich mir tatsächlich so klischeehaft, wie ich es mir vorgestellt habe. Kinderwagen an Kinderwagen zwischen Pankow und Prenzlauer Berg und an jeder Straßenecke läuft ein Hipster mit Hut und Bart, Holzfällerhemd und der obligatorischen Club-Mate-Flasche wahlweise in Hand oder Hosentasche.
Ich rumpele so vor mich hin und kurz bevor mir mein Arm von der Kofferschieberei abfällt, finde ich ein Café, das mir zusagt und ich frühstücke erst einmal.
Beim Blättern durch Facebook und Instagram habe ich die zweite Erleuchtung während meiner Berlinreise: 👋 ist gar nicht piktogrammisch für Ohrfeige, wie ich immer dachte, sondern heißt Winken.
Rückblickend auf so manchen Kommentar fällt mir bei dieser Erkenntnis ein Stein vom Herzen. Doch nicht lauter passiv-agressive Menschen in meinem Umfeld sondern einfach nur fröhliche Winker!
Mein Gefühl treibt mich und meinen Ratterkoffer durch Berlin. In einem Park mache ich Pause, lese und beobachte Menschen. Ich hätte gerne meine Kinder und meinen Mann um mich, aber ich weiß auch, dass es dann nicht das gleiche wäre. So jammert nämlich niemand, dass es langweilig ist, oder die Füße weh tun oder man dafür aber mindestens fünf Stunden Computer spielen dürfe, wenn man erst endlich wieder zu Hause wäre.
So tun nur mir die Füße weh und vom Koffernachziehen habe ich mir meine Fingerknöchel aufgeschubbert. Aber es gibt Schlimmeres.

2016 ist wirklich kein gutes Jahr: Nach und nach sterben alle Helden meiner Kindheit weg. Das ist so traurig!
Langsam wird es wieder Zeit, etwas zu essen. Mir schwirrt ausnahmsweise mal keine fiese Filmmusik im Kopf rum, sondern Herbert Grönemeyer:
Ich will ne Currywurst.
Das ist doch Berlin, oder?
Aber es ist gar nicht so leicht, eine Currywurst zu kriegen. Berlin besteht zwar gefühlt vor allem aus Kneipen und Restaurants, aber Currywurst abseits des absoluten Zentrums ist schwierig. Ich könnte Indisch essen, oder libanesisch, oder koreanisch-amerikanisches Soulfood. Oder Burger. Oder Döner.
Jedes ostasiatische Land hat hier seine eigene kulinarische Vertretung. Aber Currywurst?
Ich schiebe meinen Koffer mittlerweile wie einen Rollator vor mir her. Hoffentlich halten die Rädchen und ich muss ihn nicht auch noch tragen.
Plötzlich kommt mir die Gegend bekannt vor. Hier war ich letztes Jahr schon einmal, als ich mit den Kindern in Berlin war. Und hier gibt es auch endlich einen Laden, der mir eine Currywurst verkauft.
Frisch gestärkt habe ich die Idee, dass ich mir die Hackeschen Höfe anschauen möchte. Das habe ich nämlich im vergangenen Jahr mit den Kindern nicht mehr geschafft.
Ich war dort einmal auf Klassenfahrt kurz vor dem Abitur. Aber damals waren wir da bei grauem Wetter und ich habe der Stadtführerin ungefähr so gut zugehört wie meine Kinder mir, wenn ich ihnen versuche, etwas Allgemeinbildung zu vermitteln oder sie zur Mitarbeit im Haushalt aufzufordern.
In meiner Vorstellung handelt es sich bei den Hackeschen Höfen um ein verwunschenes Örtchen, efeubewachsen, mit lauter superkreativen Kunsthandwerkern, die Abfall in die tollsten und schönsten Dinge verwandeln können, und alternativen Cafés mit frischgebackener Brombeertorte.
Ich erwarte Unabhängigkeit, Laissez-faire und Lebensfreude.
Und ich finde einen Haufen Trubel und Touristen in kurzen Hosen und Tennissocken in Sandalen.
Immerhin finde ich auf dem Weg dorthin ein Mitbringsel für meinen Mann:
Bei einem Kaffee in der Sonne beobachte ich einen Clown, der hinter Leuten hergeht und sie nachmacht, und lache mich schlapp. Ob ich wohl auch sein Opfer war, als ich so durch die Menge gelaufen bin?
Am Bahnhof versorge ich mich erst einmal mit Nahrung für die Rückfahrt.
Diesmal ist es einfacher als noch vor zwei Tagen, da ich die Auswahl ja kenne, sie ist nämlich nahezu identisch mit dem Angebot in Frankfurt.
In Frankfurt gab es allerdings keine Brautleute zwischen den Zügen zu bewundern:
Auch wenn mir der Bahnverspätungsalarm mal wieder versucht, weiszusagen, mein Zug hätte zehn Minuten Verspätung, kommt er pünktlich in Frankfurt an.
Ich bin erstaunt, dass man von Berlin nach Frankfurt nur vier Stunden braucht, umgekehrt jedoch fast das doppelte. Oder bin ich versehentlich an Gleis 9 ¾ eingestiegen?
Und jetzt bin ich wieder zu Hause. Und mein Koffer steht im Schlafzimmer und möchte ausgepackt werden. Aber ich möchte nicht. Noch nicht. So ist es ein wenig so, als stünde er noch etwas in Berlin.